
Sehr geehrter Herr Harald Martenstein,
heute passt mein Vater auf meine Kinder auf und geht mit ihnen ein Eis essen. Er freut sich wie Bolle und erledigt seine großväterlichen Aufgaben mit einer grenzenlosen Liebe und Freude über die kindliche Sicht auf die Welt. Das erinnert mich an Ihre väterlichen Zeilen über das Leben mit Kindern. Sie beide trennen nur zehn Lebensjahre.
Das ist in vielerlei Hinsicht relevant, denn mein Vater ist eine zentrale Figur in unserer langjährigen Beziehung. Also der Beziehung zwischen Ihnen, Herr Martenstein, und mir. Mein Vater verkuppelte uns literarisch bereits in meinen Zwanzigern und machte mich damit wohl zum jüngsten Fan außerhalb ihrer Zielgruppe. Ich mochte Ihre Schreibe sogar so gern, dass ich auf meiner Homepage in der Rubrik „Über mich“ schrieb: „Eines Tages möchte ich auch mal so kluge Sachen sagen wie Harald Martenstein.“. Ich zitierte Sie prominent in meinem Buch und ein Selfie von uns beiden teilte ich stolz in allen denkbaren sozialen Netzwerken.
Das ist mir jetzt alles ziemlich peinlich, aber das gehört zum Erwachsenwerden wohl dazu.
Ihretwegen habe ich mich nun ein ganzes Pfingstwochenende lang mit meinem Vater gestritten. Über das Handy. Sie müssen wissen, es ist sehr anstrengend mit Angehörigen Ihrer Generation über dieses Medium zu kommunizieren. Das elterliche Tippen dauert ewig, jedes dritte Wort fällt der Autokorrektur zum Opfer und ganze Sätze können oftmals nur durch die großzügige Verwendung von Emojis dem beabsichtigten Sinngehalt zugeführt werden.
Er kommentierte Ihre neuste Kolumne mit „Find ich echt gut.“
Ich antwortete: „Find’ ich echt dümmlich.“.
Und –Zack- waren wir wieder mittendrin im Vater-Tochter-Generationenkonflikt aus 35 Jahren Altersunterschied.
Sie sind mit Ihrer aktuellen Kolumne „Über alte und neue Ungerechtigkeiten“ krachend von dem ohnehin bereits maroden Denkmal gestürzt, das ich Ihnen einst baute. Hier sitzen Sie jetzt zwischen den Trümmern in illustrer Gesellschaft alternder Herren, von Franz-Joseph Wagner bis zu Jens Jessen, von deren Existenz und Meinung nur aufgrund ihres männlichen Geschlechts überhaupt Kenntnis erlangen konnte. Schlicht weil Sie und Ihre Trümmermänner den Diskurs schon immer und noch immer dominieren dürfen. Ausgerechnet dieses Privileg, als Leitthema Ihrer Kolumne über angebliche „neue Ungerechtigkeiten“ und weibliche Autoren, führte wohl zu meiner überfälligen Heldendemontage. Und jetzt haben wir den Salat.
Nur David Hasselhoff, der bekanntlich Deutschland befreite, hält sich noch wacker da oben und looked für mich nach Freedom.
Zurück zu Papa: Der passt also heute auf die Kinder auf, denn er ist mein größter Fan und ich brauche Zeit um diesen Beitrag zu schreiben. Als Frau brauche ich nämlich für alles immer etwas länger. Mit dieser selbstverständlich blödsinnigen Annahme beginnen Sie auch ihre aktuelle Kolumne und versehen sie mit berechtigter Kritik und angemessener Verhohnepipelung der verlängerten Prüfungszeiten an der Universität in Oxford. Ich hätte nach diesem Absatz die Lektüre beiseitelegen sollen, aber wie sagten Sie mal so schön: „Wer nur liest, um sich in seiner Meinung bestätigt zu fühlen, sollte das Lesen am besten ganz aufgeben.“ Daran halte ich mich, denn das ist vermutlich ein kluger Ansatz und ich werde auch weiterhin alles lesen, was Sie schreiben.
Unsere Beziehung hat eine tiefe Krise, Herr Martenstein. Aber Krisen soll man als Chancen begreifen, sagen Horst Köhler und Papst Benedict der XVI gleichermaßen. Leider kann ich Ihnen nicht einfach billiges „Clickbaiting“ unterstellen, denn sie sind ja ein Print-Journalist. Auch künstliche Kontroversen mit Blitz-Auflagensteigerung einer Zeitung, wie dem #Aufschrei von Jens Jessen unlängst in DIE ZEIT, oder pressewirksames Rumgepimmel wie eigentlich bei allem was Jens Spahn so twittert, erlauben es mir in Ihrem Fall nicht, einfach genervt mit den Augen zu rollen und mir zur Entspannung ein Video von Caroline Kebekus reinzuziehen.
Kurz: Ich nehme Ihnen einfach nicht ab, dass Sie eine sexistische Begründung für eine neutral getroffene Maßnahme für alle Studenten nicht entlarven können und sie das tatsächlich auf eine Ebene holen, auf die sie nicht gehört. Also glaube ich fest daran, dass Horst und Joseph Recht haben und wir reden müssen. Wir jungen Frauen mit Euch alten Männern. Für die Chance in der Krise.
Sehen Sie die Welt doch mal mit der Kinderbrille. Sie haben ja ein Kind und manchmal leihen einem Kinder ja auch mal was aus. Kinder sind nämlich wahre und waschechte Gender-Beauftragte. Als Bernhard Blocksberg neulich im Kassettenrecorder nicht auf den Hexengeburtstag von Tante Amanda gehen konnte, weil dort „Redeverbot für Männer“ herrscht, waren meine Kinder empört und voll auf Bernhards Seite. Auch der Erzähler der Aufnahme von 1990 ruft: „Was? Ein Redeverbot für Männer. Das ist ja ungeheuerlich!“. Ich habe die Gunst der Stunde genutzt um meinem Mann ein neues Vorlesebuch für das Kinderbett vorzuschlagen: „Frauen in der Geschichte des Rechts“ von Ute Gerhard. (Kinder in einer Juristenfamilie haben es nicht leicht, das ist sicherlich richtig.)
Das elterliche Gespräch driftete ab. Hin zu den historischen „Hexenprozessen“ im Mittelalter und die mediale Verwendung dieses Vergleichs für Männer, die heute über die #metoo Debatte stolpern und sich davon bedroht fühlen. Auch Sie verglichen in einem wütenden Artikel einen (angeblichen) Rufmord mit einer „Hexenjagd“ auf einen Regisseur. Einem Begriff aus Zeiten der absoluten Rechtelosigkeit und Willkür, der Frauen ausgeliefert waren und chancenlos in einem in sich geschlossenen, patriarchalen System am lebendigen Leibe wegen „Zauberey“ verbrannt wurden. Mich macht dieser Zusammenhang sprachlos. Ein Teufelskreis. Denn ich will ja was sagen, damit man nicht immer nur Ihresgleichen hört!
Sie stellen also die krude These auf: „(...) die Jungen sollten nicht für das Patriarchat bestraft werden“ und sehen die Bestrafung ausgerechnet in einer angeblich schlechteren Ausbildung von Philosophiestudentinnen. Die müssten nun "das Patriarchat ausbaden", weil die jetzt in Oxford 40 % Autorinnen auf ihren studentischen Leselisten haben. Eine Maßnahme, die mit der Schreibverlängerung für alle Studenten genauso viel zu tun hat, wie David Hasselhoff mit dem Mauerfall. Herr Martenstein, mit Verlaub, das Patriarchat von damals wirkt sich wirklich überall aus, aber doch nicht hier.
Echte Redeverbote! Echte Berufsverbote! Echte Unsichtbarkeiten und Ungerechtigkeiten. Überall auf der Welt und auch hierzulande. Nicht nur in den Siebzigern, als meine Mutter nicht zur Polizei durfte und als „Bankkaufmann“ in die Eheurkunde meiner Eltern eingetragen wurde. Oder Frauenskispringen wegen „Erschütterungen der Gebärmutter“ bei den olympischen Winterspielen 2010 noch verboten war. Oder die Tatsache, dass wir 2018 wieder über „Tierschutz und Abtreibung“ in einem Satz diskutieren sollen und die Führungsriege unseres Heimatministeriums nur aus Herren besteht. Die männliche Jury der GEMA hat 20 Musiker für den Musikautorenpreis nominiert. Und eine Musikerin. Was droht uns, wenn wir daran schrauben und mal hinter die Systeme schauen?
Sie, Herr Martenstein, rechnen zumindest mit dem Totalkollaps von von Recht, Gesundheit und Kultur. Sie bedauern mich und meinen Berufsstand nun ausgerechnet dafür, dass ich Gesetze anwenden muss, die Männer geschrieben haben? Ihr krudes Gedankenexperiment, dass sodann tausende Schadenersatzprozesse durch ein dysfunktionales Rechtsystem an die Wand gefahren werden, ist eine reine "Überzeichnung"? Ja und nein. Denn sie ist das älteste Stilmittel derjenigen, die Privilegien platt verteidigen mit plattem "jawokommenwirdadennhin"-Gemurmel.
Sie sehen nicht nur unfähige Richterinnen am Horizont des Gender-Terrors, Sie warnen auch vor der drohenden Apokalypse der Medizin. Schadenersatzprozesse, verursacht durch Chirurginnen, die ihr Handwerk nicht beherrschen, weil ja auch hier die Lehrbücher von Männern geschrieben sind, die sie nun nicht mehr lesen. Sie ergehen sich in dem Horror, Brecht könnte an deutschen Schulen ebenfalls gestrichen werden und als Ersatzfrau fiel Ihnen nur Rosamunde Pilcher ein. Mit dieser Polemik stehen Sie der Debatte um „Hosen im Plenum des Bundestages“ in nichts nach, als der Bundestag unter Vizepräsident Richard Jaeger 1957 vor lauter „neuen Ungerechtigkeiten“ fast Amok lief, als Lenelotte von Bothmer einen Hosenanzug trug. „Wollen Sie nicht gleich nackt auftreten“ musste sich die Mutter von sechs Kindern fragen lassen.
Eine Quote, zumindest mal eine die Frauen in die Posten hebt, zu denen Männer viel leichter Zugang haben, das machen sie klar, kann in ihren Augen offenbar nur zu Qualitätseinbußen oder gleich in die Anarchie oder zu Toten führen. Die bisher bestehende Männerquote hat unsere Welt schließlich zu einem ganz wunderbaren Ort gemacht. Von der Antike bis in die Neuzeit. Eine auch mal inkompetente Frau an der Spitze könnte die Welt sicher nicht vertragen, bei all der Granatenkompetenz die uns seit Jahren in Männergestalt umgibt.
Mit diesen Vergleichen werden Sie derart unsachlich und wirr, dass mich frage, wie lange Sie eigentlich noch in diesem Elfenbeinturm sitzen wollen und von dort aus bequem Nelson Mandela zitieren möchten. Sie selbst schrieben mal über „Whataboutismus“: „Wenn Sie die Katze Ihrer Nachbarin getreten haben, und die Halterin beschwert sich, fragen Sie einfach, was eigentlich mit dem Leiden der Tiere in den Schlachthöfen ist. Katzen essen Fleisch. Und wenn sie mir im Internet noch mal Whataboutismus vorwerfen, dann lautet meine Antwort: Was ist mit Oskar Lafontaine?“
Lieber alter Herr Martenstein, das Leiden muss nicht sein. Wer aber nur noch schreibt, um seine Privilegien zu verteidigen, sollte als Replik mehr zu bieten haben als: „Was ist mit Oskar Lafontaine?“.
Wir haben eine Chance. Ich glaube fest daran und an Sie. Und an die alten Männer.
Ihre Nina Straßner
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ani (Samstag, 07 Juli 2018 09:04)
Applaus! Vielen Dank für den tollen Artikel. Als Radio Eins Hörer haben wir einmal wöchtentlich das zweifelhafte Vernügen, wenn wir nicht schnell genug an den Lautstärkeregler kommen um leise zu drehen, Herrn Martenstein bei seinen Betrachtungen folgen zu dürfen und kennen das Elend...
Aann (Freitag, 14 September 2018 14:08)
Habe leider keinen Papa, der auf die Kinder aufpasst. Umso mehr ebenfalls (der Lage der Dinge geschuldet: kurzer) Applaus von meiner Seite. Danke!
FrauK (Sonntag, 30 Dezember 2018 13:50)
Danke für diesen wunderbaren Artikel. Ich weiss noch wie fassungslos ich war, als diese von mir überaus geschätzten Kolumnen kippten, flach wurden, nichtssagend. Oh, wie schade, der arme Mann hat Schreibblock, Schaffenskrise spekulierte ich so vor mich hin. Und auf einmal hatte er seinen neuen Stil gefunden - ich muss jetzt immer sehr tapfer sein, wenn ich ihn lese.