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Heldinnen in schwarzen Roben

Würde ich jemals ein Marvel-Comic Actionfilm-Drehbuch schreiben dürfen, dann würde meine Heldin „Aquilina“ heißen. Sie wäre unheimlich klug, stark mit Worten und Taten, hätte kräftige, schwarze Haare und scharfe, klare Gesichtszügen. Den Bösen würde ich „Nassar“ nennen und er wäre ein blasser, fieser Winzling mit schütterem Haar, kleinen, gemeinen Schlangenaugen und spinnenartigen Fingern. Klug wäre er auch, perfide mächtig in seiner abseitigen Welt und er würde ganz viel Leid über die Menschen bringen, die er manipuliert, verletzt und für seine Machenschaften ausnutzt. Ein kleines Mädchen namens Rachel, ein Opfer Nassars, wird sich aus seinen Fängen befreien und Aquilina und ihre Getreuen zu Hilfe rufen. Die beiden Kontrahenten, das Gute und das Böse, würden sich einen erbitterten Kampf liefern mit ihren Superkräften und Zauberschwertern. Aquilina wird auf der Seite des Guten stehen und vorbereitet und stark in die Arena steigen. Nassar dagegen natürlich hinterhältige Angriffe führen, sich durch Verschwörungen und Lügen einen Vorteil verschaffen wollen und windige Komplizen von der dunklen Seite der Macht an seine Seite stellen, um das Gute herauszufordern und zu schwächen. Aquilina schmettert seine Attacken geradezu lässig mit einer Handbewegung ab, denkt sich neue Heldinnen-Moves aus und macht die Opfer Nassars zu ihren aufrechten Kriegerinnen. Wenn sich Aquilina dann mit den obligatorischen Heldenworten eines jedes Actionfilms über den besiegten Gegner beugt, soll sie mit tiefer, verächtlicher Stimme und so laut, dass es die ganze Welt auch ohne Twitter hören kann, sagen: „Ich habe gerade Dein Todesurteil unterschrieben, NASSAR!“ und ihn mit einem Schlag von Thors Hammer für 175 Jahre in die Unterwelt verbannen.

Ja, und dann schwingt sie ihr schwarzes Cape, wird unsichtbar und

–THE END-

 

In meiner Rede zur Oscarverleihung werde ich übrigens meinen Eltern danken, die mir eine so tolle Ausbildung ermöglicht haben und dem deutschen Bildungssystem, da sie sich deswegen nicht komplett bis unters Dach verschulden mussten. Und ich werde Rührungstränen weinen und mich dann betrinken. Das wird ganz toll!

 

Tja. Ich bin so kreativ wie ein Stück Toast, denn dieser Heldinnenepos hat sich gerade live und in Farbe in den USA zugetragen und ich hab ihn nur abgeschrieben. Die Richterin Rosemarie Aquilina hatte den Vorsitz in einem strafrechtlichen Verfahren  gegen den Mannschaftsarzt der US-Nationalmannschaft wegen sexuellem Missbrauchs der minderjährigen Turnerinnen. Die Richterin machte mit ihrer besonderen Verhandlungsführung (selbst für US-Amerikanische Verhältnisse) Schlagzeilen, weil sie keinerlei Hehl aus ihrer Verachtung für den Arzt machte, der über Jahrzehnte junge Mädchen auf seinen Behandlungstisch legte, vorgab ihr Freund und Beschützer zu sein und sich unter dem Vorwand medizinisch notweniger Untersuchungen sexuell an ihnen verging. Und bis zum heutigen Zeitpunkt nichts begriffen zu haben scheint und sich selbst als Opfer weiblicher Rachephantasien generiert.

 

Die Richterin gab den Opfern Nassars eine dringend notwendige Stimme, als sie ihnen ermöglichte, in Anwesenheit des Angeklagten ihre Leidensgeschichte zu erzählen und sich direkt an ihren Peiniger zu wenden. Nassar stellte daraufhin einen Antrag an das Gericht, bei den Aussagen der Mädchen nicht anwesend sein zu müssen. Sich die eigenen Taten aus dem Mund der Frauen anhören zu müssen, würde ihn emotional zu stark belasten. Die Handbewegung, mit der die Richterin seinen (übrigens auch nach der deutschen Strafprozessordnung) absurden Antrag auf die Seite wischt, sucht seinesgleichen. Die Aussagen der Turnerinnen sollte sich übrigens ein jeder anhören müssen, der in der #metoo Debatte lieber auf der dunklen Seite steht und sich voller Hybris und Verkennung von Realitäten geheuchelt fragen möchte, warum diese  „angeblichen #metoo Opfer so lange brauchen, um zu sprechen“ oder tatsächlich meinen, manche Frauen zögen „Vorteile“ aus einer wie auch immer gearteten Missbrauchssituation oder aus dem Status „als selbstgewähltes Opfer“.

 

Lächerliche zehn Fälle des Missbrauchs gab der Angeklagte Nassar zu, den Rest überließ er der Aufklärungsarbeit des Gerichtes. Die Richterin verurteilte ihn zu 40 bis 175 Jahren Haft, nachdem ihn der Federal Court bereits zu 60 Jahren wegen des Besitzes von Kinderpornographie verurteilt hatte. Dieses in den USA nicht unübliche, über ein oder mehrere Menschenleben hinausgehende Strafmaß finden deutsche Juristen immer ein bisschen lustig Bei uns sieht die Höchststrafe  „fünfzehn Jahre mit anschließender Sicherungsverwahrung“ vor. Nun, ich hoffe Nassar kommt nie, niemals wieder raus und seine Helfer und Helfershelfer*innen gleich mit rein. Ich hoffe er sieht niemals wieder das Tageslicht, ich wünsche ihm lebenslange Seuchen an den Hals, mögen ihm die Hände abfaulen und der Pimmel ebenso und und möge er einsam und traurig dahinsiechen bei jedem weiteren Atemzug.

 

So wie ich fühlen viele, wenn sie an Täter von Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung denken. Es ist leicht, sich selbst oder andere als willkürliche Opfer eines anderen Menschen vorzustellen. Verbrechen wie diese haben einen sehr niedrigen Abstraktionsgrad. Fast jeder kann dem Leid eines Opfers, zumindest abstrakt, nachspüren. Bei Verbrechen wie „Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion“ nach § 152b StGB oder „Nötigung von Verfassungsorganen“ nach § 105 StGB sieht das ganz anders aus.

 

Wir fühlen Rachegelüste und Rache ist eine machtvolle Emotion, die sich aus den Tiefen des Herzens speist. Wer Rache möchte, fühlt sich verletzt und wer verletzt ist, handelt nicht immer vernünftig oder mit dem gebotenen Augenmaß. Wer rächt, sucht eine eigene Form von Frieden. Wer Vergeltung fordert, meint oftmals eine subjektive Gerechtigkeit. Frieden und Gerechtigkeit sind im Wesentlichen tatsächlich auch das, was Gerichte für eine Gemeinschaft zu erreichen bestrebt sind, wenn sie Urteile fällen und hierfür mit der nicht zu unterschätzenden Macht ausgestattet werden, über andere zu „richten“.

 

Was aber tatsächlich „gerecht“ und was „ungerecht“ und was Frieden oder Unfrieden bringt, fällt nicht wie Thors Hammer vom Himmel einer übergeordneten Macht, sondern wird von Menschen und Gesellschaften mit all ihren zeitgeistlichen Emotionen, Geschichten und persönlichen Befindlichkeiten geprägt. Eindrucksvoll wird das im Iran deutlich: Wird eine des Ehebruchs beschuldigte Frau dort auf der gerechten Grundlage von Zeugenaussagen verurteilt, wird sie bis zur Brust eingegraben. Männer gerechterweise nur bis zu Hüfte. Dann werden sie in einer gerecht nach Status verteilten Reihenfolge so lange mit Steinen beworfen, bis sie gerechterweise qualvoll sterben. Bei der Größe des Steins wird aus Gerechtigkeitserwägungen darauf geachtet, dass er nicht so groß ist, dass er den Verurteilten gleich beim ersten Treffer tötet, und gleichzeitig nicht so klein ist, dass man ihn nicht mehr als Stein erkennen kann. Wer ungerechterweise aus dem Erdloch entkommen kann, wird wieder eingegraben - es sei denn, er hat vorher gestanden.

 

Zu weit weg, zu brachial und überhaupt ist das doch zum Beispiel bei Tötungsdelikten was ganz Anderes: Wer anderen das Leben nimmt, hat sein Recht auf Leben verwirkt?

 

Nun, in Wien wurde vor knapp 70 Jahren die letzte Frau nach richterlichem Urteil erschossen, weil sie ein anderes Leben genommen hatte. Sie hatte einer Schwangeren bei der Abtreibung ihres Kindes geholfen. Nicht nur auf die Abtreibung, sondern auch auf die Beihilfe stand die Todesstrafe. Wer tötet, der soll getötet werden. Für die Kirche waren (und sind teilweise) Schwangerschaftsabbrüche tatsächlich „Mord“. Sie widersprechen dem 6. Gebot einer höheren Macht, viel mächtiger als Thors Hammer, dem Gebot Gottes: Du sollst nicht töten. Getötet wurde auch, wer ungerechterweise einen Juden versteckte, obwohl es verboten war und wer den Führer beleidigte, denn das war auch verboten.

In Polen wird übrigens derzeit überlegt, Abtreibungen generell zu verbieten, außer die Frauen können eine Vergewaltigung „nachweisen“. Parallel dazu wird dort übrigens immer wieder über die Wiedereinführung der Todesstrafe debattiert. In Japan gilt sie noch und von der Türkei und der dortigen Auffassung von „Gerechtigkeit“ wollen wir gar nicht sprechen.

 

Ich lasse das mal kurz wirken.

 

Die US-amerikanische Richterin Rosemarie Aquilina, die den Verurteilten Nassar mit den Worten „Ich habe gerade ihr Todesurteil unterschrieben“ bis an sein Lebensende in spätestens 175 Jahren einsperrte, wird wegen dieser Worte in den sozialen Netzwerken wie eine Heldin gefeiert. „Solche Richter brauchen wir hier in Deutschland auch, nicht immer dieses * mimimi * und dieses Streicheln der Täter.“  - „Die Amis wissen wie man Urteile fällt. Sowas nennt man Richter und nicht so wie bei uns Kasperle.“ – „Sowas brauchen wir hier auch für Vergewaltiger und Tierquäler!“ – „Totschlagen wäre noch besser gewesen.“ – „DAS ist eine Richterin nach meinem Geschmack.“.

 

„Ich habe gerade ihr Todesurteil unterzeichnet.“ ist ein Satz, den ich niemals wieder in einem deutschen Gerichtssaal hören möchte. Sei der Wunsch nach Vergeltung noch so nachvollziehbar. Er ist aus dem Mund einer Richterin oder eines Richters weder heldenhaft, noch innovativ, noch in irgendeiner Form einem verlässlichen und funktionierenden Strafrecht zuträglich. Im Gegenteil.

 

Bei aller persönlichen Rache- und Vergeltungsphantasien, die ich in meinem stillen Kämmerlein haben mag und dir mir mein Karma vergiften, möchte ich hier eine klare Grenze der Heldenverehrung ziehen. Ich wünsche mir nämlich, wie so viele Individuen mit mir, leider ziemlich inflationär Vergeltung von Unrecht. Das reicht, je nach Stimmung, vom ungerechten Parkplatzklau auf dem Eltern-Kind-Parkplatz bis hin zum brutalen Vergewaltiger meiner Freundin.

 

Ein Rechtssystem muss rationaler sein, als das Individuum und seine berechtigten Emotionen in all seinen Facetten.  

 

Wir brauchen keine Richter, die mit der Todesstrafe drohen und wir brauchen auch keine drakonischen Strafen. Die kommen nämlich zu spät. Wir brauchen in erster Linie eine Gesellschaft, die aus sich heraus Taten, Übergriffe und Seilschaften wie diese verhindert. Wir können und müssen uns alle an die an die eigene Nase fassen. Wir sind am Drücker und können uns nicht aus der Verantwortung nehmen, in dem wir ein Rechtsystem mit drakonischen Strafen ausstatten und dann meinen, es herrsche dann weniger „Kasperltheater“, mehr Opferschutz und weniger Täterschutz. Wir sollten uns niemals „solche Richter“ wünschen, sondern an einem System arbeiten, dass es „solchen Nassars“ und seinen Helferlein möglichst unmöglich macht, Menschen zu Opfern zu machen. Wir sollten uns nicht das amerikanische Rechtssystem mit seinen aus politischen Gründen ins Amt gewählten Richter*innen wünschen, sondern eine Gesellschaft bilden, in der Opfer gehört und nicht verhöhnt oder zum Schweigen „nach langen Jahren“ aufgefordert werden. Die Richter*innen und ihre Urteile kommen für jedes Opfer immer einen Schritt zu spät.

 

Wer bei #metoo weghört, wer in der Silvesternacht sofortige „Zwangskastration“ der Täter fordert, aber bei der Aufarbeitung von lange zurückliegenden Sexualverbrechen von „Hexenjagd“ auf Täter spricht, wer von „Besetzungscouch“ faselt und von „solchen Frauen“ oder auch wer die „Nein heißt Nein-Debatte“  wegen angeblicher „Falschbeschuldigungen“ stilllegen möchte, gerade derjenige möge niemals vor ein Gericht geraten, dass mit derlei Macht über Leben und Tod ausgestattet ist und ebenso seine ganz eigenen, menschlichen Wertungsmaßstäbe hat. Recht wird von Menschen gemacht. Der Mensch und der Richter ist fehlbar.

Die Gesellschaft ist es auch.